Wie viel Mehrarbeit bedeutet die Cannabisfreigabe für Justiz und Polizei im realen Arbeitsleben für die Institutionen?
(Fast) Egal welches Medium konsumiert wird, überall steht geschrieben, dass Justiz und Polizei durch die Cannabisfreigabe massive Mehrarbeit leisten müssen.
Die Probleme der Justiz
Die Justiz beschwert sich, dass Altfälle durchgeforstet werden müssen, weil in den Akten viele alte Verfahren zu finden sind, die nach der Cannabisfreigabe eingestellt werden müssen.
Wo genau liegt die Mehrarbeit? Was macht denn mehr Arbeit aus? Die Akten zu sichten, oder das Verfahren komplett durchziehen? Termin ansetzen, sich einarbeiten, Zeugen befragen, Urteil schreiben etc. pp.? Ich schätze mal, dass in der Zeit eines Verfahren deutlich mehr als 10 Akten gesichtet werden können – und das von dem Mitarbeiter, der von allen Kolleginnen Faultier genannt wird. Außerdem werden ja ab dem Tag der Gültigkeit des Gesetzes deutlich weniger Verfahren eröffnet werden müssen, da die Hilfskräfte der Staatsanwaltschaft (aka Polizei) weniger Anzeigen erstellen.
Ich – so als Pragmatiker – würde nicht JETZT anfangen, sämtliche Akten (die meist immer noch als Aktenberge gen Himmel streben) zu sichten, sondern weiter „First in – first Out“ abarbeiten und wenn dann eine Akte auf den Tisch kommt, welche geschreddert werden kann: Shreddern. Kurze Notiz an alle Beteiligten „Verfahren eingestellt wegen Cannabisfreigabe“. Mehrarbeit strebt deutlich in den negativen Bereich!
Die Strafanstalten
Bei den Strafanstalten erwarte ich keine nennenswerten Veränderungen, was die Belegung angeht. Der kleine Kiffer wird heute schon meist laufengelassen, Dealer wird man in Strafanstalten nicht so häufig antreffen. Die jetzt Einsitzenden sind meist „Dealer im großen Stil“ also große Mengen an Koks, Amphetamin oder Heroin etc. Diese Delikte werden von der Cannabisfreigabe nicht berührt.
Die Probleme der Polizei
Apropos Polizei: Auch diese beschwert sich über die Mehrarbeit – sollte das Gesetz gültig werden. Wieviel MEHR Kontrollen müssen durch die Cannabisfreigabe durchgeführt werden? Wenn vor der Cannabisfreigabe der Wachmeister gerufen wird, weil da „seltsame Pflanzen“ auf dem Balkon/im Garten stehen, ist die mentale Hürde recht flach. Er muss entscheiden, ob es drei oder mehr Pflanzen sind. Bei mehr als drei Pflanzen schreibt er eine Anzeige, bei weniger als vier Pflanzen fährt er weiter und schreibt eben keine Anzeige. Die Anfahrt ist ohnehin zu bewältigen. Im Gegensatz zu heute wird bei weniger als vier Pflanzen stumpf keine Anzeige geschrieben (mit Beweisaufnahme, Befragung etc. pp.).
Verkehrskontrollen werden auch heute durchgeführt (genauso wie heute auch schon gekifft wird…) und dabei Menschen, die unter Drogeneinfluss ein Fahrzeug geführt haben, aussortiert und es wird eine Anzeige erstellt. Die Mittel zur Erkennung der Fahruntüchtigkeit stehen bereit – das ist ein Standardverfahren für die Einsatzkräfte. Glaubt wirklich jemand, dass nach der Cannabisfreigabe ein sprunghafter Anstieg der bekifft geführten Fahrzeuge zu erwarten ist? Wird eine bemerkenswerte Anzahl von Menschen von jetzt auf gleich nach der Cannabisfreigabe anfangen, Cannabis zu konsumieren UND so unvernünftig sein, ein Fahrzeug zu führen?
WENN die Socialclubs einen vernünftigen Job machen, wird dies dazu führen, dass die Preise für Cannabis deutlich sinken werden. Dadurch kann die Beschaffungskriminalität eingedämmt werden. Wer kein Geld hat und kiffen will, wird wahrscheinlich immer noch einen Taschendiebstahl o.Ä. begehen. Aber diese Person wird nicht mehr so viele Dealer an Bahnhöfen und Parks vorfinden, da der Ertrag für den verbotenen Handel sinken wird, weil er weniger Kunden hat. Im Gegensatz dazu bleibt das Strafmaß allerdings gleich. Blöd für die Straßendealer.
Cannabis als Einstiegsdroge
Ja, es gibt einige (ich habe leider keine belastbaren Werte – Dunkelziffern sind blöde..) Menschen, die vom Kiffen zu härteren Drogen wechseln. Aber das Argument „Wer kifft. wird aus koksen“ ist so abgedroschen wie falsch. Das Problem dabei ist weniger das „ich will einen härteren Kick“, als vielmehr der Dealer im „Untergrund“, der nicht ausschließlich Cannabis im Portfolio hat. Und genau dort liegt die typische Gefahr, zu härteren Drogen zu greifen. Das „probiere doch mal“. Noch NIE wurde ich an der Supermarktkasse aufgeklärt „Sie kaufen Wein/Bier. Wir haben auch gerade Doppelkorn im Angebot“. Als ich früher (lange verjährt!) auf zwielichtigen Hinterhöfen oder in der Privatwohnung des Lieferanten meine „Zehnerecke“ kaufte, wurde mir sehr wohl auch Koks und anderes angeboten.
Jugendliche Kiffer gibt es heute und wird es auch in Zukunft geben (warum spricht niemand über jugendliche Alkoholkonsumenten?). Daran wird die Cannabisfreigabe auch nichts ändern. Eher werden sauberere Drogen im (strafbewehrten!) Angebot erscheinen, das allerdings sehe ich eher als Fortschritt, denn als Nachteil – auch für die Jugendlichen – an.
Meine Probleme mit der Cannabisfreigabe
Konsumenten sollen in Zukunft bis zu 50 Gramm Cannabis straffrei besitzen dürfen. Im meiner wirklich harten Zeit wäre ich mit 50 Gramm deutlich über zwei Monate ausgekommen. Diese freigegebene Menge ist deutlich ambitioniert. Selbst wenn das Gramm nur 5€ kosten würde (Straßenpreis dürfte heute bei 10€ liegen) wäre das ein Wert von 250€. Wer kauft denn soviel auf einen Schlag ein? Diese Menge ist – in meinen Augen – zu hoch.
Das Gesetz regelt die Freigabe in Stufen, das heißt, dass zuerst ab 01.04.2024 der Besitz straffrei sein, danach – ab 01.07.2024 – sollen „Cannabis Social Club“ Cannabis anbauen dürfen? Hallo McFly? Warum nicht diese Daten genau andersrum? Erst anbauen dürfen und dann 3 Monate später abgeben dürfen. Sollte jemand Mitte April 2024 mit 5 Gramm Cannabis erwischt werden, ist dies straffrei. Es bleibt aber die Frage: Woher kommt das Zeug? Legal erworben wurde es nicht – geht ja noch nicht!
Fazit
Ja, es gibt – in meinen Augen – valide Kritikpunkte. Aber dies sind nicht die, welche ich von den Bedenkenträgern präsentiert bekomme.
Gut zusammengefasst!
Schade nur, dass der Staat nun gar nichts daran verdienen wird.
Hehe, wenn da überall die Umsatzsteuer drauf kommt, ist das auch recht ordentlich. Dazu werden viele Homegrow-Freaks bestimmt auch gut in Anlagen investieren – auch da wird versteuert. Dazu (kicher) Wer denkt eigentlich an die Arbeitsplätze, die geschaffen werden…
> Die Justiz beschwert sich, dass Altfälle durchgeforstet werden müssen, weil in den Akten viele alte Verfahren > zu finden sind, die nach der Cannabisfreigabe eingestellt werden müssen.
> Wo genau liegt die Mehrarbeit? Was macht denn mehr Arbeit aus? Die Akten zu sichten, oder das Verfahren komplett durchziehen?
Es geht nicht um Verfahren, die man noch „durchziehen“ müsste; die kann man einfach einstellen. Es geht um bereits rechtskrätig abgeschlossene Verfahren mit Verurteilungen, die aber noch nicht (vollständig) vollstreckt sind. Zwischen rechtskräftigem Urteil und Abschluss der Vollstreckung können (bis zur Ladung zum Strafantritt, bis zur Vollverbüßung der Strafe, wenn es nicht nur um Cannabisgbesitz ging, bis zum Abstottern der Geldstrafe, bis zum Ablauf der Bewährungszeit) nicht nur Monate, sondern Jahre vergehen. In jedem einzelnen Fall muss(te) dort geprüft werden, was genau Gegenstand der Verurteilung war, ob das jetzt überhaupt noch und wenn ja, ggf. geringer strafbar ist, dann müssen ggf. bei Tatmehrheit durch das Gericht neue Gesamtstrafen gebildet werden und bei Tateinheit die Einzelstrafen ermäßigt werden. All das muss zeitnah erfolgen, weil man ja nun kaum monatelang Geld- oder Freiheitsstrafen vollstrecken kann, die so nicht mehr vollstreckt werden dürfen.
Zudem lassen sich die relevanten Verfahren nicht einfach so heraussuchen; bestenfalls ist als Tatvorwurf ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz erfasst. Dann weiß man aber ohne Beiziehen und Durcharbeiten der Akte immer noch nicht, welches Betäubungsmittel (Cannabis? was anderes?) und ob es um straffreien Besitz oder bspw. weiter strafbares Handeltreiben geht. Schlimmstenfalls ist der Hauptvorwurf etwas ganz anderes und ein Verstoß gegen das BtmG war nur „mit dabei“; dann lässt sich diese Akte gar nicht finden, weil nur der schwerste Tatvorwurf in der IT-Anwendung erfasst wird. Man bei locker sechsstelligen Zahlen an Akten aber auch nicht mal eben alles durchblättern.
Dazu kommt, dass die Justiz, insbesondere die Staatsanwaltschaften, personell massiv unterbesetzt sind. Wenn das Personalbedarfsberechnungssystem die Realität widergäbe – was es nur bedingt tut -, dann betrüge der Deckungsgrad unter 90%. Es müssen also ohnehin 90 Leute die Arbeit für 100 machen, bevor dieser Zusatzaufwand entsteht.
Das kann man natürlich auffangen, indem man bei der Bagatetellkriminalität – Beleidigung, Ebay-Betrug, Diebstähle, sexuelle Belästigung, … – großzügiger einstellt oder insgesamt (noch) weniger qualitativ gut arbeitet. Ob das ein sinnvoller Trade-off ist, darüber kann man geteilter Meinung sein.
Das ist übrigens nur der erste Schritt. Zusätzlich zu dieser Amnestieregelung hat der Gesetzgeber ja noch vorgesehen, dass auch das Bundeszentralregister auf Antrag von abgeschlossenen Verfahren bereinigt werden soll … das kommt dann später.
> Ich – so als Pragmatiker – würde nicht JETZT anfangen, sämtliche Akten (die meist immer noch als Aktenberge gen Himmel streben) zu sichten, sondern weiter „First in – first Out“ abarbeiten und wenn dann eine Akte auf den Tisch kommt, welche geschreddert werden kann: Shreddern.
Darum geht’s ja überhaupt nicht. _Das_ ist tatsächlich kein Problem.
> Wieviel MEHR Kontrollen müssen durch die Cannabisfreigabe durchgeführt werden? Wenn vor der Cannabisfreigabe der Wachmeister gerufen wird, weil da „seltsame Pflanzen“ auf dem Balkon/im Garten stehen, ist die mentale Hürde recht flach. Er muss entscheiden, ob es drei oder mehr Pflanzen sind. Bei mehr als drei Pflanzen schreibt er eine Anzeige, bei weniger als vier Pflanzen fährt er weiter und schreibt eben keine Anzeige.
Keineswegs. Die drei Pflanzen müssen gegen unberechtigen Zugriff gesichert sein, üblicherweise durch abgeschlossene Türen oder Growboxen. Pflanzen im Garten sind ordnungswidrig. Und das Gesetz enthält noch eine Vielzahl vergleichbar hochkomplexer Regelungen, die … eher wenig intuitiv sind.
Es ist ja nicht so, als habe man Cannabis legalisiert. Von wegen! Man hat wenige – wenn auch praxisrelevante – Bereiche in ausgesprochen komplexer (und teilweise auch widersprüchlicher) Weise partiell straffrei gestellt und dafür ein kompliziertes System von Straftat- und Bußgeldtatbeständen neu geschaffen.
> Glaubt wirklich jemand, dass nach der Cannabisfreigabe ein sprunghafter Anstieg der bekifft geführten Fahrzeuge zu erwarten ist? Wird eine bemerkenswerte Anzahl von Menschen von jetzt auf gleich nach der Cannabisfreigabe anfangen, Cannabis zu konsumieren UND so unvernünftig sein, ein Fahrzeug zu führen?
Aber sicher.
> WENN die Socialclubs einen vernünftigen Job machen, wird dies dazu führen, dass die Preise für Cannabis deutlich sinken werden.
Du hast Dich mit den Vorgaben beschäftigt, die da zu erfüllen sind? 😉
> Aber diese Person wird nicht mehr so viele Dealer an Bahnhöfen und Parks vorfinden, da der Ertrag für den verbotenen Handel sinken wird, weil er weniger Kunden hat.
Ich zweifele. Wir werden sehen.
> Im Gegensatz dazu bleibt das Strafmaß allerdings gleich.
Nö, keineswegs. Das KCanG hat die Strafrahmen auch für das Handeltreiben mit Cannabis („Dealen“) spürbar abgesenkt und die Nachweisbarkeit erheblich erschwert.
> Cannabis als Einstiegsdroge
Die „Einstiegsdroge“ ist da m.E. weniger das Problem. Viel problematischer ist der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und der Auslösung einer Psychose, bzw. das entsprechende Risiko.
> Konsumenten sollen in Zukunft bis zu 50 Gramm Cannabis straffrei besitzen dürfen.
60 g; ab 50 g ist es eine Ordnungswidrigkeit. (Ja, wie ich schon schrieb: unsinnig komplex.)
Faktisch kann man aber auch sehr viel mehr daheim haben, solange man nicht mehr als 25/30 g draußen dabei hat. Das ist legal, begründet also keinen Anfangsverdacht einer Straftat mehr, so dass es keine Handhabe gibt, überhaupt festzustellen, wieviel daheim liegt. Das können auch ein paar Kilo sein; ohne einen, der petzt, wird das kaum auffliegen. Auch für Dealer ist das günstig; an die kommt man bislang primär über die Abnehmer heran. Dieser Weg fällt weg, so dass zur Absenkung der Strafen auch eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit kommt, erwischt zu werden.
Das KCanG ist in vielerlei Hinsicht weit mehr verkorkst als ein großer Wurf – völlig unabhängig, wie man zur Frage der Legalisierung an sicht steht.